Der preisgekrönte Debütfilm von Charlotte Wells taucht in die Erinnerungen eines Sommers ein und zeigt, was sich nicht in Bildern fassen lässt.

Rezension von Stav J Szir

Irgendwo vor der türkischen Küste schwenkt das Bild über türkische Wellen. Eine Kinderstimme berichtet aus dem Off: Der Vater hat die Bootscrew angelogen und ist ohne Taucherschein auf dem Tauchgang. Durch den Camcorder erscheint noch immer nichts als verwackeltes Wasser. Eine grelle Sonne blendet das Blau und das Schiffsdeck.

Die elfjährige Sophie (Frankie Corio) und ihr junger Vater Calum (Paul Mescal) sehen sich selten, umso kostbarer sind die wenigen Tage gemeinsam im Urlaubs-Resort. Sorgfältig cremt Calum Sophie tagsüber am Pool ein, witzelt mit ihr beim Abendessen über die tanzenden Animateur*innen oder bringt ihr Tricks zur Selbstverteidigung bei. Während Sophie schläft, spielt er die Videos des Tages ab. 

„Alle Bilder werden verschwinden.“ So beginnt Annie Ernaux ihr Buch Die Jahre, aus eigenen Erinnerungen und über das Erinnern. Was aber, wenn die Bilder nicht verschwinden? Wenn die Erinnerungen, die wir festhalten wollten für die Familie, für Freund*innen, für ein späteres Ich, wenn diese Bilder stattdessen uns selbst festhalten? 

Im Anschluss an die Berlin-Premiere von Aftersun am 13.11.2022 im Kino International spricht die Regisseurin Charlotte Wells vom Trügerischen der Bilder, von den Lügen unserer visuellen Erinnerungen. Jedes Foto, jedes Video, jede Erzählung hat das Potential, ein eigenes Erinnern zu werden. Heutzutage entstehen c.a. 4,7 Milliarden Fotos – täglich. Woran also werden wir uns, woran werden sich unsere Kinder erinnern? 

Die wesentlichen Ereignisse im Film erfahren wir durch die Dinge, die wir nicht zu sehen bekommen. Bei einer ruhenden Einstellung auf dem Unterarm des Vaters am Esstisch, bei einer ruhenden Einstellung im spiegelnden Fernsehbildschirm. Die Orientierung in der Erinnerung vollzieht sich über den Ton, über die Farbe, über die Blickwinkel. Mit dem Geräusch des Rein- und Rauszoomen des Camcorders beginnt der Film und auch die Steigerung in seiner Dramatik vollzieht sich über Atmung, Schweigen und Sounds. Es gibt keinen überflüssigen Satz, keine überflüssige Einstellung. So entsteht eine Spannung trotz der äußeren Langsamkeit und Langeweile (Zwei britische Menschen machen Ferien im Hotel, bei dem das Highlight Karaoke-Night ist, es könnte kaum langweiliger sein). Eine Spannung, als würden wir mit geschlossenen Augen an einen Abgrund geführt werden. 

Vielleicht ist diese Grenze eine der Erinnerung, hinter der wir unsere eigene Kindheit vermuten. Ein Damals, als die Erwachsenenwelt in ihrer Unverständlichkeit noch hinter einer magischen Schwelle lag und Sommertage sich endlos hinzogen. Als Zuschauer*innen empfinden wir eine Angst nach, die Eltern zu verlieren. Eine unbegründete Angst? Über die sonnige Szenerie, reich an liebevollen Gesten, ziehen die seelischen Schatten des Vaters auf. 

Für Netflix-gewöhnte Augen wird in 96 Minuten erlebbar, wieviel sich ohne spektakuläre Plot-Points und Heldenreisen erzählen lässt und wie eine Bildstruktur unsere eigenen Erinnerungsnarrative in Frage stellen kann. Charlotte Wells’ Langfilm-Debüt zeugt von tiefer Sensibilität, weiser Präzision und dem Beweis, dass Bildsprache noch lange nicht an ihrem Ende ist. 

 
Frankie Corio and Paul Mescal in Aftersun by Charlotte Wells, © 2022 Sarah Makharine

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