Auf der dritten Innovationskonferenz des deutschen Branchenverbands des Arthouse Kinos wird neben der allgemeinen Aufregung anlässlich des Starts der 75. Berlinale vor allem eins geteilt: Leidenschaft für das Kino und große Kompromissbereitschaft für dessen Fortbestehen.

Ein Bericht von Annika Gebhard

„Das Kino ist zurück“, sagt Christian Bräuer, Vorstandsvorsitzende der AG Kino, Branchenverband der deutschen Filmkunsttheater alias Arthouse Kinos, mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen. Fünf Jahre nach Beginn der Corona-Pandemie, die vielen Kinobetreiber*innen in punkto mittel- und langfristiger Zukunftsperspektive schlaflose Nächte bereitet hat, ist auf der Innovationskonferenz Cinema Vision 2030 eine allgemeine Leichtigkeit zu spüren, die auf die stabilen bis steigenden Publikumszahlen insbesondere bei einer jüngeren Altersgruppe zurückzuführen ist. 14 Speaker*innen präsentieren und diskutieren an diesem Tag vor einem gut gefüllten Saal im Delphi Filmpalast in Berlin-Charlottenburg ihre Untersuchungen, Strategien und Perspektiven für die Distribution von Filmen abseits von Streaming-Diensten und Video-on-Demand-Angeboten. Unter den prominenten Gästen, die nicht nur für die Konferenz, sondern vor allem auch für die am nächsten Tag startende Berlinale angereist sind, finden sich unter anderen Pulitzer-Preisträger Walt Hickey, der die Ergebnisse seiner Forschung zum sozioökonomischen Einfluss von Filmen vorstellt, Letterboxd-Gründer David Larkin, der mit in breitem New Yorker Akzent vorgetragenen Anekdoten aus Hollywood für Lacher sorgt, sowie Thierry Frémaux, der künstlerische Leiter der Filmfestspiele von Cannes, der vor allem seinen französischen Filmpurismus nicht verstecken kann.

Den Auftakt macht Walt Hickey, der den oft von Selbstwirksamkeitszweifeln geplagten Kulturschaffenden mit seinen beeindruckenden Statistiken zur Publikumsbeeinflussung ein angenehmes argumentatives Polster bereiten kann. Die Ergebnisse von Hickeys großangelegten Studien zeichnen nämlich ein eindeutiges Bild: Filme haben demnach enorme empirisch nachweisbare Effekte auf die Lebensgestaltung und vor allem die Konsumentscheidungen ihres Publikums und sind so weitaus mehr als nur Unterhaltungsgüter. Auch das Kino, das ein entschieden effektiveres Immersionserlebnis bieten kann als jeder Flatscreen im heimischen Wohnzimmer, ist Hickey zufolge in der Distribution von Filmen nicht so leicht wegzudenken. „You never know which movie will change your life,” strahlt er zum Ende seiner Präsentation und breitet seine großen Arme aus. Das Publikum lacht, nur einer traut sich in der anschließenden Fragerunde darauf hinzuweisen, dass es ja nur Blockbuster gewesen seien, die Hickey in seinem Vortrag angeführt hatte und was außerdem mit möglichen problematischen Auswirkungen sei, die Filme auf ihre Zuschauer*innen haben können.

Dennoch schauen alle angestachelt von Hickeys Plädoyer für die Relevanz des Films gebannt auf den nächsten Redner, David Larkin, der ebenfalls beeindruckende Zahlen und Wachstumskurven des sozialen Netzwerks Letterboxd zu präsentieren hat, eine Plattform auf der User*innen Filme bewerten und sich so ein eigenes digitales Filmtagebuch anlegen können. Insbesondere junge Menschen nutzen und lieben – wie Larkin in affektiver Emphase betont – Letterboxd und dokumentieren dort fleißig ihre ‚recent views and likes.‘ Dass sich aus diesen Unmengen an digitalen Tagebüchern auch ganz hervorragend Daten zum gezielten, personenbezogenen Advertisement ziehen lassen, findet ebenfalls Erwähnung in Larkins Präsentation. Es wird klar: Filme sind eben nicht allein Kunstwerke, sondern schließlich auch Marktobjekte mit massivem ökonomischem Kapital.

Von einem marktwirtschaftlichen Blick auf das Kino berichtet auch Züleyha Azman, Marketing Director des Kino Rotterdam: In ihrem Programmkino in der Rotterdamer Innenstadt lassen sich nicht nur Filme, sondern auch ein thematisch angepasstes kulinarisches Angebot (zum Beispiel der „Gladiator Burger“) konsumieren. Nach dem Tod von David Lynch hat das Kino Rotterdam (wie viele andere Kinos weltweit) eine Lynch-Themenwoche gestartet inklusive „Directed by David Lynch“-Aufkleber am Toilettenspiegel, da dort, wie Azman betont, besonders gerne Selfies gemacht werden. Das Kino Rotterdam scheint perfektioniert zu haben, was so viel – und vorwiegend junges – Publikum sowohl zu Neuveröffentlichungen wie auch zu Klassikern ins Kino treibt: Das Schauen eines Films ist eingebettet in eine soziale Erfahrung mit Event-Charakter, die zudem durch die materielle Kontextualisierung zur Kreierung eines Kults beiträgt (David-Lynch-Selfie, David-Lynch-Sticker, David-Lynch-Donut). Die sehr engagiert wirkende Azman ist kaum außer Atem nach ihrer Präsentation, von der sie sogar ein paar Slides mit noch weiteren von ihr gestarteten Initiativen und Programmlinien überspringen muss, um den zeitlichen Rahmen des sowieso länger als geplant dauernden ersten Blocks der Konferenz nicht völlig zu sprengen. 

Tricia Tuttle und Christian Bräuer © AG Kino – Gilde e.V. 2024

Den Abschluss der Tagung macht Cannes-Leiter Thierry Frémaux in einem Gespräch, das Ute Soldierer mehrfach zu organisieren versucht, doch gegen die ausufernden Antworten Frémaux nur bedingt ankommt. Dieser wirkt vor dem Hintergrund der zuvor gehörten, äußerst proaktiven Redner*innen fast ein wenig anachronistisch. Mit mehrfachen Verweisen auf die Lumière-Brüder und dem Statement „The future of cinema must be fed by the past“ macht Frémaux klar, dass er Kino als traditionsreiches Medium versteht, das sich stets aus seiner Historisierung aktualisiert. Während Azman, Larkin & Co. diesem Punkt wahrscheinlich gar nicht widersprechen würden – so ging es auch in den vorherigen Panels immer wieder um die Integration von Klassikern und Retrospektiven in den Programmen –, scheint Frémaux’ Aversion gegenüber der Vermarktung von Filmen in sozialen Medien und dem für Lacher sorgenden Wunsch, Popcorn solle doch bitte in Amerika bleiben, in französischen Kinos habe das nichts verloren, den vorherigen Beiträgen sehr entgegengestellt.

Thierry Frémaux im Gespräch mit Ute Soldierer © AG Kino – Gilde e.V. 2024

Weit über der Zeit und mit zwar erschöpften, aber trotzdem zufriedenen Gesichtern verabschieden Bräuer und seine Vorstandskolleg*innen das Publikum und laden zum gemeinsamen Ausklang ein. Zwischen all den Vorträgen und Diskussionen lässt sich trotz der Diversität und den ebenfalls nicht fehlenden Kontroversen eine Quintessenz der dritten Cinema Vision 2030 Konferenz herausziehen. Das Kino ist nicht tot, im Gegenteil: es erfüllt die Nachfrage eines jungen, ökonomisch aufstrebenden und größer werdenden Publikums nach immateriellen Erlebnissen, die auf sozialer, kultureller und gastronomischer Ebene befriedigen sollen. In Zeiten von völliger materieller Übersättigung sind es gerade Events wie ein Harry-Potter-Marathon, eine Wong-Kar-Wai-Themenwoche oder eine Barbie-Premiere komplett in Pink, die das Publikum von ihren gemütlichen Couches weglocken. Während man vermutlich bereits einen kleinen Grabstein für das lineare Fernsehen aufstellen kann, dessen Untergang gegenüber Video-on-Demand und Streaming nicht mehr aufzuhalten ist, wird das Kino noch eine ganze Weile überleben. Und zwar mindestens so lange, wie es genügend enthusiastische Cinephiles gibt, die sich mit immer neuen Ideen und Visionen an die Rettung des Kinos im 21. Jahrhundert machen. Dafür nehmen wir sogar Popcorn in französischen Kinos in Kauf – pardon, Thierry. 



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