Ein Film über den Verfall einer archaischen schottischen Dorfgemeinschaft zur Zeit der Enclosure-Bewegung; über Misstrauen, Geschlechterrollen und Zugehörigkeit – visualisiert in kontrastierender, romantisierender 16-mm-Film-Ästhetik, einen Hauch von Ironie enthaltend. Was passiert, wenn plötzlich von außen versucht wird, den Dingen einen Namen zu geben, den unbestimmten Ort zu kartieren, zu kommerzialisieren?
Eine Rezension von Annabel Sewerin
Historischer Hintergrund zu Athina Rachel Tsangaris neuem Film – nach einem Roman von Jim Crace – ist die Enclosure-Bewegung im 17. Jahrhundert, die in weiten Teilen Englands, aber auch in Schottland stattfand: Bauernfamilien und ganze Dorfgemeinschaften wurden aus ihrem Zuhause vertrieben, da Landbesitzern von jetzt an erlaubt war, common land für ihren eigenen Profit zu privatisieren. Die traditionelle, eher kommunistische Landnutzung wurde von den kapitalistischen Modernisierungsplänen überrannt. Die resultierende Landflucht sollte zur Vorstufe der später aufkommenden Industrialisierung werden. Um die neuen Eigentumsverhältnisse und die erworbene Macht festzuhalten und zu legitimieren, wurden von den Landbesitzern Kartografen durch das Land geschickt.
Tsangari stürzt uns direkt zu Beginn in die ländliche Idylle Schottlands. Ein langhaariger Mann in blauem Gewand, Walter (Caleb Landry Jones), kriecht verstörend animalisch und erotisch-genießend mit Dreck unter seinen Fingernägeln durch das im Wind wehende Getreidefeld. Er bewundert Insekten, beißt in die Rinde eines Baumes und tastet ein Astloch mit Finger und Zunge ab.
Gefilmt auf 16-mm wird der Film vom Feuilleton ganz besonders für seine malerische Art gelobt. Durch den organisch-grobkörnigen Look und die erdige Farbpalette, die beinahe ausschließlich grün, rot und ocker verwendet, erinnern einzelne Szenen stark an spätimpressionistische Landschaftsmalerei von Vincent van Gogh. Aber auch andere Referenzen wie die isolierten Rückenfiguren in Caspar David Friedrichs weiten Landschaftsmalereien oder die Darstellung von dörflichen Alltagssituationen in den Gemälden von Thomas Gainsbourg und Pieter Bruegel lassen sich erkennen.
Die Natur offenbart sich allerdings schnell als das einzige Ideal an diesem Ort – ein Ort ohne Namen. Denn wir beobachten eine Dorfgemeinschaft, die innerhalb biblischer sieben Tage zerstört wird. Die Bewohner:innen des abgelegenen Dorfes leben in einer beinahe kommunistischen Gemeinschaft ohne von außen gegebenen Gesetzen, bis plötzlich in der Nacht eine Scheune Feuer fängt und somit das Elend ins Rollen kommt. Am nächsten Tag herrscht stilles Misstrauen und der fremde Kartenzeichner Mr. Earle (Arinzé Kene), der die Dorfgemeinschaft von nun an begleiten soll, bleibt nicht der einzige Eindringling. Drei Personen, die selbst ihre Heimat verloren haben, legen mit ihrem Boot an, um das Dorf auszurauben – doch vergebens. Die zwei Männer sollen sieben Tage an dem Pranger büßen. Walters Freundin Kitty (Rosy McEwen) kümmert sich um die dritte Person: eine schwarze Frau mit langem Haar. Sie, Mistress Beldam (Thalissa Teixeira), sorgt für Schweigen. Auf die Dorfbewohner wirkt sie fremd und zieht die Frauen und Männer mit ihrer Schönheit in den Bann. Doch Kitty nimmt ihr alles, was sie noch hat: ihr Haar. Sie rennt davon und beobachtet das Dorf von nun an von außen.
Am nächsten Tag wird die Ährenkönigin, das junge Mädchen Lizzie (Maya Bonniwell), gewählt und am Tag darauf führt Walter Mr. Earle durch ihre Wiesen und Felder. Sie freunden sich an und Mr. Earle nimmt ihn als seinen Assistenten für seine Karten auf. Auf der Wanderung beobachten sie ein befremdliches Ritual der Gemeinde: Die Köpfe der Kinder werden auf die Grenzsteine geschlagen, damit sie immer wissen, wo sie hingehören. Dann geht plötzlich alles ganz schnell: Master Kents Vetter, Master Jordan (Frank Dillane), erreicht mit seiner Truppe zu Pferd das Dorf. Sie ziehen in das Herrenhaus, das nach dem Tod von Master Kents Frau vernachlässigt wurde. Master Jordan erhebt Anspruch auf das Land und stellt seine Modernisierungspläne für steigenden Profit vor. Master Kent ist nun auf der Seite der mächtigen Landbesitzer und Walter als sein Freund wird gezwungen, sein eigenes Dorf zu verraten. Nach und nach richten sich die Verschwörungstheorien und der Hass nicht mehr nur aus Xenophobie und Rassismus gegen Mistress Beldam und Mr. Earle, sondern eigentlich immer mehr gegen Master Kent und Walter, die ihrem Dorf die Loyalität aufkündigen. Master Kent knickt unter der großen Macht seines Vetters endgültig ein. Er kann sich nicht mehr auf Walters Seite und die seines Dorfes schlagen. Sogar die Dorfbewohner:innen sind sich mittlerweile über eine Flucht einig. Der letzte Tag: Abreisetag. Die Dorfbewohner:innen verlassen ihr Dorf. Es folgt die erahnte Schlussszene: Walter läuft einen Sandweg entlang; hinter sich lässt er das brennende Dorf, dazu elektrische Orgelmusik. Dann schlägt er mit seinem Kopf auf den Grenzstein auf.
Pflügen ist unser Eid. Und unsere Zukunft nicht in den Boden zu schreiben, bevor der Winter kommt, heißt, dass es keinen nächsten Frühling geben wird. Master Jordan sagte: ‚Ihr werdet den Pflug nicht mehr brauchen.‘ Dazu sage ich: Ich werde den kommenden Frühling verteidigen.
Der Antiheld Walter erscheint in dem Film wie ein Kind. Er ist immer dabei, sieht zu und will vergebens helfen. Er ist schwach und findet nie die Worte. Eigentlich ist er von Beginn an einsam und gehört nirgends dazu. Doch durch diese sieben Tage weiß er, wo er schlussendlich zuhause ist: ein Zuhause, das jetzt nicht mehr existiert. Durch seine Freundin Kitty wie auch durch die anderen Figuren scheinen hier die traditionellen Geschlechterrollen vertauscht zu sein. Sie ist die eigentliche Chefin des Dorfes und hebt sich durch ihre roten Kleider von den Dorfbewohnern im blauen Gewand ab. Sie tritt mutig, laut, kämpferisch und selbstbewusst auf und trifft die wichtigen Entscheidungen. Doch eine wirkliche Liebesbeziehung scheinen die beiden nicht zu führen, denn der körperlichen Nähe weichen sie aus und leben sie beide eher in den homoerotischen Freundschaften aus.
Die filmische Erzählstruktur erinnert stark an das Gesellschaftsspiel „Werwolf“: Nach und nach werden innerhalb dieser sieben Tage die verborgenen Rollen der Figuren aufgedeckt. In der Nacht verschwinden Figuren, am nächsten Morgen scheint für einen kurzen Moment alles wieder beim Alten zu sein, bis das Dorf erwacht. Eine Ährenkönigin wird gewählt, Fremde werden als Hexen verdächtigt und am Ende bleibt nur noch ein Dorfbewohner übrig. Sind Walter und Master Kent Dorfbewohner oder stecken sie mit den mächtigen Landbesitzern unter einer Decke, sind sie heimliche Werwölfe? Misstrauen und Hass schleichen sich ein.
Letztendlich kann diesem Ort kein Name und keine genaue Zeit zugewiesen werden. Die Botschaft ist zeitlos. Auch in Tsangaris Heimat Griechenland sei das Ackerland ihrer Großeltern mittlerweile eine Autobahn, erfahren wir im Abspann. Ihr Film warnt vor Verdrängung, Umweltzerstörung und Xenophobie. Gleichzeitig ziehen die entstehenden Bilder, die tableaux vivants, in den Bann, sodass wir beim Schauen des Films in die dem Untergang gewidmeten Welt eintauchen können und für einen Moment die Zeit vergessen.





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