Eine zerbrechliche Beziehung zwischen zwei isolierten und melancholischen Menschen, die dennoch unterschiedlicher nicht sein könnten. Sprache, Identität und die Kunst des Zeichnens und Kochens führen sie zusammen, doch die wirkliche Nähe entgleitet ihnen immer wieder.

Eine Rezension von Annabel Sewerin

Das Spielfilmdebüt des französisch-japanischen Regisseurs Koyo Kamura, das eine Adaption des gleichnamigen Romans von Elisa Shua Dusapin ist, führt nach Sokcho, einer kleinen südkoreanischen Fischerstadt am Meer. Die 25-jährige Soo-Ha (Bella Kim) lebt dort mit ihrer Mutter (Mi-Hyeon Park) und arbeitet trotz abgeschlossenem Literaturstudium in einer kleinen Pension, in der sie für die Gäste kocht und deren Zimmer putzt. In diesem Winter checkt der französische Comiczeichner Yan Kerrand (Roschdy Zem) in der Pension ein. Er möchte eine Weile bleiben, um die Stadt kennenzulernen. Da Soo-Ha als einzige in der Pension Französisch spricht, wird ihr die Aufgabe zugeteilt, sich um den rätselhaften Gast zu kümmern.

Schnell wächst aus dem professionellen Verhältnis eine Faszination. Im Internet sucht Soo-Ha nach seinem Namen und erfährt aus einem Interview, dass er für seine Kunst nach Orten suche, die sich nicht leicht erschließen lassen. Er bittet sie darum, ihm ihr Sokcho zu zeigen und so entwickelt sich mit der Zeit ein Verhältnis, das nie ganz eindeutig erscheint. Verspürt sie romantisches oder sexuelles Verlangen, möchte sie seine Muse sein, ist sie fasziniert von seiner kreativen und mysteriösen Energie oder ist er für sie eine Vaterfigur?

Roschdy Zem und Bella Kim in Winter in Sokcho © OFFSHORE 2024

Dann ist da noch Soo-Has Freund Jun-Oh (Doyu Gong), der eine Modelkarriere anstrebt und Sokcho verlassen will. Er konfrontiert sie mit Schönheitsidealen, denen er zwar selbst unterworfen ist, diese aber unreflektiert an sie weitergibt, was dazu führt, dass sie ihr Aussehen hinterfragt und in eine Essstörung rutscht. Kerrands Aquarellzeichnungen von fluiden Körpern, die Soo-Ha durch einen Riss in der Fensterabdeckung zu seinem Zimmer heimlich betrachtet, eröffnen ihr eine alternative Sicht auf ihren Körper und die darin geborgenen Emotionen.

Doch immer dann, wenn zwischen Kerrand und Soo-Ha echte Nähe entstehen könnte, rückt der schweigsame und manchmal griesgrämige Künstler weiter weg. Zwar stellt er ihr persönliche Fragen, beantwortet selbst aber kaum welche. Von ihr aufwändig zubereitete Gerichte lässt er kommentarlos stehen. Bis er am Ende ohne große Abschiedsworte genau wie ihr Vater vor etlichen Jahren wieder verschwindet und sie in ihrer Stadt allein zurücklässt. Eine Kälte, die nicht nur Kerrand ausstrahlt, verkörpert auch die vom Winter betäubte Stadt Sokcho, die durch die vielen Hochhäuser unpersönlich und rau wirkt. Dennoch wirken die Künste des Zeichnens und des Kochens, die die beiden ab und zu austauschen, als kleine warme Aufmerksamkeitsgesten der Kälte entgegen. Soo-Has Gefühle werden im Film durch animierte Zeichnungen von dunklen, zerfließenden Linien dargestellt. Für sie ist das Kochen – eine von der Mutter überlieferte Kunst – eine Art Trostspender, symbolisiert eine Hälfte ihrer kulturellen Wurzeln und steht dennoch im Widerspruch zu ihrer eigenen Essstörung. Zwischen ihr und Kerrand passiert letztendlich gar nicht viel und doch verbindet sie ein unsichtbares Band auf unaussprechbare Weise. Koyo Kamura spielt gekonnt mit unseren Erwartungen, denn Klischees und Vorhersehbarkeiten werden schlussendlich nie eingelöst. Ganz schnell könnte sich der Film in eine Liebesgeschichte verwandeln. Darin, dass er das nicht tut, liegt sein Reiz. Manchmal sind es eben die kurzweiligen Begegnungen, die uns nachhaltig beeinflussen. Um der Mutter im immer wiederkehrenden Thema der Heirat zu widersprechen und sich auch aus ihrer unglücklichen Beziehung mit Jun-Oh zu befreien, braucht Soo-Ha einen Anstoß von außen, der sie über ihre Wünsche nachdenken lässt.

Roschdy Zem und Bella Kim in Winter in Sokcho © OFFSHORE 2024

In 104 berührenden, sinnlichen und sensiblen Minuten entfaltet Winter in Sokcho seine Kraft vor allem in Momenten der Distanz. So beispielsweise in einem Bild, das bei einem gemeinsamen Essen in der Stadt entsteht: die Hände von Soo-Ha und Kerrand, die sich am Tisch gegenüberliegen und sich jeder auf seine Weise mit Stäbchen bedient. Sparsame Dialoge und stille Standbilder erzählen in diesem Film besonders viel. Die geteilte Einsamkeit und Isoliertheit der beiden Figuren werden beinahe hörbar – nicht zuletzt durch die einfühlsame und zarte Filmmusik von Delphine Malausséna. Wir befinden uns im Film immer in einem Schwebezustand zwischen Melancholie und Aufbruch.

Auf einem Aussichtspunkt in den Bergen zeigt Soo-Ha auf eine Felsformation und erzählt Kerrand, sie habe darin immer einen fliegenden Fisch gesehen, der den Nebel, in dem er festhängt, für die hohen Wolken hält. Am Ende hat Soo-Ha genau diesen Zustand erreicht. Sie hat es geschafft, sich nicht wie ihre Mutter an die falsche Person zu binden, sie hat angefangen, nach ihrer Identität zu suchen. Aber hat sie die schon gefunden? Hat sie nicht ihr ganzes Leben mit all seinen möglichen Begegnungen noch vor sich?


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