Die Ergebnisse unserer Jahresend-Umfrage unter den Filmpost-Autor:innen sind da! Bevor die Uhr Mitternacht schlägt, blicken wir noch einmal zurück auf die Filme, die das Kinojahr 2025 geprägt haben. Von gefeierten Festivalhits und großen Kassenerfolgen über Indie-Entdeckungen bis hin zu echten Kritikerlieblingen: Unsere Auswahl zeigt, wie vielfältig dieses Filmjahr in seinen erzählerischen Ansätzen und technischen Innovationen war — und zugleich, wie erstaunlich geschlossen in manchen seiner Motive. Wer weiterliest, begegnet mehr als einer Familie, die durch Kunst Katharsis findet, mehreren Verweisen auf einen gewissen Dramatiker des 16. Jahrhunderts und, noch unheimlicher, einer Reihe von Häusern, in denen generationenübergreifende Traumata spuken. Diese und andere verborgenen Verbindungslinien verleihen einem ohnehin starken Kinojahr zusätzlichen Reiz. Aber genug der Vorrede: Hier sind — in keiner bestimmten Reihenfolge — unsere Lieblingsfilme des Jahres 2025.
Panagiota Stoltidou
Hier geht’s zum ersten Teil des Beitrags (in Englisch).
Kein Tier. So Wild., dir. Burhan Qurbani

Trotz etlicher spannender Veröffentlichungen schaffen es nur wenige kreative und progressive deutsche Filme in die Kinos, was sich auf einige Probleme innerhalb der Branche zurückführen lässt: Zu starr das Korsett, das von Förderanstalten und Filmschulen vorgegeben wird, zu uninspiriert die Ästhetik, die maximal Festival-Jurymitglieder euphorisch zurücklässt. Daher umso größer die Freude über Positivbeispiele, die die Hoffnung auf innovative Produktionen nicht platzen lassen. Regisseur Burhan Qurbani legt mit Kein Tier. So Wild. ein Werk vor, das endlich aus dem formulaischen Arthouse-Raster ausbricht.
Mit Shakespeares Richard III. als Vorlage katapultiert Qurbani den zeitlosen Stoff um familiären Machtstreit in das Clanmilieu Berlin-Neuköllns der Gegenwart. Damit sind Verbindungen zur Theatergeschichte sowie zu aktuellen Migrationsdebatten gegeben. Hinzu kommt eine feministische Perspektive: So wird beispielsweise Richard zu Rashida, der jüngsten Tochter des York-Clans, die sich schonungslos an die Spitze der Familie und somit auch an die Macht kämpft. Derartige thematische Ansätze scheitern bei Festivalfilmen allzu oft an wiedergekäuten Oberflächlichkeiten oder ungelenken Cringe-Momenten, gerade wenn es darum geht, migrantische Lebenserfahrungen oder jugendlichen Slang widerzuspiegeln.
Umso erfreulicher ist es, wenn Regisseur*innen ihr Handwerk verstehen und aus diesem Material eine vor Ideen und visuellem Anspruch strotzende Melange basteln, die selbst bei einer Laufzeit von fast zweieinhalb Stunden ihre Spannung bis zuletzt beibehält. Besonders zu würdigen ist hier das Schauspiel, allen voran von Kenda Hmeidan in der Hauptrolle, sowie von Mona Zarreh Hoshyari Khah, die als Ghanima Lancaster zur sapphischen Liebschaft Rashidas wird und sich in ihrem Spielfilmdebüt unfassbar ausdrucksstark zeigt. Unbändige weibliche Wut schnürt Rashida eine Rakete auf den Rücken, die sie zwar weit bringt, später ihre Verletzlichkeit und schließlich Menschlichkeit verlieren lässt, womit sie nach vollständiger Übernahme der Machterhaltungssucht patriarchaler Kleptokratie an ihren Ambitionen und Verbrechen zerschellt.
Zwischen Game of Thrones, Dune und 4 Blocks schlägt Kein Tier. So Wild. in eine Kerbe, die internationalen Esprit versprüht, dabei trotzdem in der Bodenständigkeit des deutschen Kinos verwurzelt ist. Oftmals wird Theaterhaftigkeit hiesigen Produktionen negativ angerechnet, insbesondere wenn diese laienhaft reproduziert wird. Wenn Theater jedoch gekonnt auf die große Leinwand transferiert wird, wenn sich bedeutungsvolle, poetische Worte mit moderner Flapsigkeit abwechseln, wenn statt grauer Biedermeier-Backgrounds farbenfrohe Traumlandschaften das Setting dominieren, entsteht ein kontemporäres Gesamtkunstwerk. Kein Tier so wild, kaum ein aktueller Film so sehenswert – man muss sich nur mal aus dem Käfig der Durchschnittlichkeit heraustrauen.
Elias Schäfer
In die Sonne schauen, dir. Mascha Schilinski

Gespenster lassen sich nicht vertreiben. Schon gar nicht solche, die über ein Jahrhundert hinweg Träger transgenerationaler Traumata sind und sich dabei auch noch besonders subtil artikulieren.
Ebensolche persistenten Untergründe begegnen hier in einem so feinfühligen wie unverbraucht klischeefernen female gaze den vier jungen und allesamt großartig verkörperten Protagonistinnen Alma (Hanna Heckt) kurz vor dem Ersten, Erika (Lea Drinda) im Zweiten Weltkrieg, Angelika (Lena Urzendowsky) in der späten DDR und Lenka (Laeni Geiseler) in der Gegenwart. Sie alle leben zu jenen unterschiedlichen Zeiten auf demselben altmärkischen Vierseitenhof.
Bilder, Motive, Idiome und vor allem Gesten, realisiert in kinematografisch wie erzähltechnisch raffinierten Montagen, episodisch-elliptischen Andeutungen und enormer atmosphärischer Dichte, wiederholen sich in leichten Differenzen auf eine gespenstische Weise und suchen die einzig über den gemeinsamen Ort verknüpften Biografien der vier Mädchen so in buchstäblichem Sinne heim. Der Film springt dabei zwischen den Jahrzehnten, oft weiß man nicht, wann man ist und welche der sich zuweilen so ähnlichen Protagonistinnenstimmen gerade im Voiceover zu hören ist. Zeit scheint in diesen Anachronien im besten Sinne out of joint, insbesondere da sich ihr geschichtlicher Index der vier distinkten Epochen so überbestimmt wie abwesend darstellt. So scheint das Leben auf dem Hof von den historisch-politischen Rahmenereignissen onirisch abgeschirmt. Dennoch dringen an wenigen Stellen, geradezu existenzbedrohend, Akteure dieses Außen und seines Jetzt ein, wenn etwa Almas Onkel Fritz (Filip Schnack/Martin Rother) zum Krieg eingezogen werden soll und dem auf verstörend schmerzhafte Weise zu entgehen versucht, oder wenn bei Herannahen der Alliierten panische Menschenmassen, unter ihnen auch Erika, hinunter zum Fluss strömen …
Der Film richtet sein Auge immer wieder auf patriarchale Macht- und Begehrensdynamiken, in die die vier Protagonistinnen sich prekär verflochten finden. So insbesondere Angelika, die von ihrem Onkel wie ihrem Cousin offenkundig begehrt wird, wobei sich jedoch durch die teils kokettierenden Reaktionen der gerade ihre eigene Sexualität entdeckenden Teenagerin eine buchstäblich reizvolle ominöse Spannung entfaltet.
Solche freilich auch metapoetisch lesbaren Szenen des Betrachtens und Beobachtetwerdens, bei denen mitunter effektvoll, aber nie appellheischend die vierte Wand durchbrochen wird, ergeben sich auch beim paternal dirigierten Familienfoto, von dem sich Angelika in letzter Sekunde davonstiehlt, die sich unserem Blick gleichermaßen entzieht. Nur ihre Fluchtbewegung ist angedeutet, von der auf dem Foto nichts als eine gespenstische Spur bleibt, wie im Auflösen begriffen, noch da, aber schon abwesend.
Vielfach spielt der Film mit dem Medium der Fotografie, das per se das Momentane verewigt und das Vergangene beim Betrachten täuschend gegenwärtig macht, immer schon etwas Gespenstisches, ja eine Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit in sich trägt. Besonders womöglich bei Totenfotografien – so wie denen, die Alma von der ihr bis dahin unbekannten verstorbenen Schwester entdeckt, die ihr nicht nur unheimlich ähnelt, sondern auch noch den gleichen Namen trägt – und in ihr eine zwischen Faszination und Begehren changierende Furcht vor dem Tod weckt.
Mascha Schilinski gelingt mit ihrem Cannes-Beitrag ein Film, der uns in seiner ästhetischen Wirkmacht einige Gespenster er- bzw. widerfahren lässt: die der Geschichte, der Tradition (nicht zuletzt der Todes- und Trauerrituale), aber auch des Patriarchats und seiner beständigen Reinkarnationen. Nicht minder artikuliert sich an einigen Stellen in teils queerer oder gar inzestuöser Entgrenzung ein Begehren, jenen ewigen Wiederholungen von Macht und Gewalt, Traum und Trauma zu entkommen. In die Sonne schauen zeigt somit eine bewundernswert geduldige und verletzliche Sensibilität für das, was sich in Erinnerung der Figuren wiederholt und worin die Vergangenheit sie wieder einholt.
Leonard Glenz
Die jüngste Tochter, dir. Hafsia Herzi

Im Rahmen der französischen Kinowoche in Berlin wurde Hafsia Herzis neuester Film Die jüngste Tochter (frz.: La petite dernière) vorgestellt, eine Adaption des gleichnamigen autobiografischen Romans von Fatima Daas aus dem Jahr 2020.
Der Film begleitet die 17-jährige Fatima (Nadia Melliti), die in einem Vorort von Paris aufwächst. Sie ist die jüngste Tochter einer französisch-algerischen Familie, sie hat zwei Schwestern und liebevolle Eltern. Sie spielt gerne Fußball und ist eine gute Schülerin. Trotz familiärer Geborgenheit steht sie im Konflikt mit sich selbst: Sie kämpft mit der Erkenntnis, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlt und versucht diesen Teil mit dem Rest ihrer Identität zu vereinen. Als sie nach ihrem Schulabschluss ein Philosophiestudium beginnt, eröffnet sich ihr eine neue Welt. Sie freundet sich mit einer Gruppe von Studierenden an, die ihr Zugang zur queeren Szene Paris’ verschaffen. Nach anfänglichem Zögern beginnt sie sich mehr und mehr diesem Teil ihrer selbst zu öffnen und verliebt sich in die junge Krankenschwester Ji-Na (Ji-Min Park).
Herzi schafft eine tiefgreifende Nähe zu den Figuren, indem sie diese in intimen Momenten der Reflexion begleitet: Gezeigt wird Fatima, die an ihrem Glauben an Gott zweifelt, oder Fatimas Mutter, die auf die drei eingerahmten Abiturabschlüsse ihrer Töchter blickt und dabei aus Stolz zu Tränen gerührt ist. Die Montage erlaubt sich ungewöhnlich lange Sequenzen – so taucht man vollends in die emotionale Intensität des Moments ein.
Die wahrscheinlich stärkste Szene ist die, in der Fatima am Morgen ihres Geburtstags mit ihrer Mutter am Küchentisch sitzt und sich ihr endlich anvertrauen möchte. Obwohl sie es schlussendlich nicht über sich bringt, das Thema ihrer Homosexualität anzusprechen, macht ihre Mutter ihrer Tochter klar, wie sehr sie sie liebt und dass diese Liebe nicht an Konditionen gebunden ist.
Viele Fragen bleiben offen, sodass die Zuschauenden selbst zu einer Bewertung gelangen müssen. Fatimas Suche nach sich selbst und ihr innerer Kampf, die unterschiedlichen Welten zu vereinen, ist auch nach dem Abspann noch nicht zu Ende. Dennoch verlässt man den Kinosaal mit einem Gefühl der Sicherheit, dass sich alles zum Guten wenden und sie ihren Weg finden wird. Die jüngste Tochter ist eine Geschichte, die die Erfahrungen derer repräsentiert, die das Gefühl haben, nirgends komplett dazu zu gehören. Es geht um die Akzeptanz, dass man vielschichtiger sein darf, als es die Gesellschaft vorzugeben scheint.
Carla Bäumer
Miroirs No. 3, dir. Christian Petzold

Christian Petzolds neuester Kinofilm und letzter Teil der ‘Elemente-Trilogie‘ Miroirs No. 3 ist mal wieder ein Werk voller Stille – typisch Berliner Schule. Viele Autofahrten, deutsche Landschaften und die Darstellung eines langsamen, entfremdeten Alltags in einer beinahe magischen Zwischenwelt. Eine seltsame Spannung, die man zu Beginn nicht genau zuordnen kann, durchzieht den Film. Die Berliner Klavierstudentin Laura (Paula Beer) führt eine unglückliche Beziehung mit ihrem Freund (Philip Froissant). Bei einer Autofahrt durch die Uckermark erleiden sie einen tragischen Unfall, den er nicht überlebt. Zuvor waren sie an einem Haus entlang gefahren, an dem eine Frau (Barbara Auer), mit der Laura ungewöhnlich langen Blickkontakt hatte, ihren Zaun strich. Diese Frau bietet Laura nun an, sich bei ihr im Haus zu erholen. Sie heißt Betty und pflegt sie auf seltsam zuvorkommende Weise. Schließlich lernt Laura auch noch Bettys Mann (Matthias Brandt) und Sohn Max (Enno Trebs), die gemeinsam in einer Werkstatt arbeiten, bei einem gemeinsamen Essen kennen. Durch Laura scheint die entzweite Familie Stück für Stück wieder zusammenzuwachsen. Doch vor allem Max verhält sich ihr gegenüber merkwürdig und auch die anderen scheinen ein entscheidendes Thema zu meiden. Etwas liegt in der Luft. Bis es Max in einem Wutausbruch rausrutscht. Wie aus einem Traum erwachend zieht Laura daraufhin zurück nach Berlin und mischt sich wieder unter ihre Kommiliton*innen. Der Film ist durchzogen von ewigen Sonnenstrahlen, sattem, aber kurz vor dem Vertrocknen stehendem Grün, dem Klavierspiel und immer wieder dem sanften Wind. Ein Gefühl der Ruhe trotz der angespannten Beziehungen und unverheilten Wunden. Petzold-Kenner werden sich über die eine oder andere Anspielung auf Undine oder Roter Himmel freuen.
Annabel Sewerin
Dry Leaf, dir. Alexandre Koberidze

Könnte man seine Erinnerungen in Filme verwandeln, sie würden vielleicht so aussehen wie Alexandre Koberidzes Dry Leaf. Schon ein flüchtiger Blick auf dessen Bilder lässt erahnen, dass hier alle Erwartungen, wie ein Film auszusehen hat, am Eingang des Kinosaals zurückgelassen werden sollten. Denn wie schon der erste Spielfilm des Regisseurs – Lass den Sommer nie wieder kommen (2017) – wurde Dry Leaf vollständig auf einem Sony Ericsson W595 gedreht. Von der ersten bis zur letzten Sekunde und über drei Stunden lang geht es darum mit digitaler 144p-Auflösung durch die Dörfer und Landschaften Georgiens. Wir folgen dem vom Vater des Regisseurs gespielten Irakli, der sich auf die Suche nach seiner verschwundenen Tochter Lisa begibt und dabei von deren unsichtbar erscheinenden Kollegen Levan begleitet wird. Ihr einziger Anhaltspunkt ist Lisas letzter Arbeitsauftrag: Fußballplätze in ganzen Land fotografieren.
Die Irrfahrt führt uns zunächst mit dem Auto durch ein schier endloses Gewirr von Dorfstraßen. Die weichen Konturen lassen dabei Licht und Farben gegenüber Formen in den Vordergrund treten, sodass man sich an impressionistische Gemälde erinnert fühlt. Alles verschwimmt sanft in den Gelb- und Grüntönen der georgischen Landschaft und Menschen oder Blumen erscheinen wie Farbtupfer in diesem digitalen Aquarell. Akustisch ist dabei das hypnotische Bimmeln von Kuhglocken ständiger Begleiter, aber auch der vom Bruder des Regisseurs komponierte Soundtrack, der klassische und elektronische Elemente vereint.
Jenseits der Dorfstraßen finden sich die eigentlichen Knotenpunkte der Suche – die Fußballplätze. Diese bestehen meist aus nichts als einer Wiese und zwei, drei Pfählen, die ein Tor abgeben. Linien im Raum an denen im Fußball die Welt hängt und für Irakli die Hoffnung, seine Tochter wiederzufinden. Folglich wird jedes der vielen Tore mit einer fast schon melancholischen Frontalaufnahme festgehalten, als ob hier Lisas Fotos nachgestellt werden sollten, um ihr auf diese Weise näherzukommen. So hängt an diesem Stück abstrakter Geometrie die ganze Sorge und Sehnsucht der Reise und es entbehrt nicht einer traurigen Ironie, dass die digitale Kamera alle Linien im Rauschen ihrer Bilder verschwimmen lässt.
Gerade zu Beginn kann die schwindelerregende Optik des Films leicht überfordern. Hat man sich aber einmal auf seine Bildsprache und mäandernde Dramatik eingelassen, offenbart sich hinter der fantastischen Kulisse eine lebensechte Familiengeschichte voll inniger Emotionen. Nach dreistündiger Irrfahrt ist es dann beinahe merkwürdig, die Traumwelt des Films wieder zu verlassen und in einen Kinosaal jenseits von 144p zurückzukehren. Was bleibt ist die Erinnerung an einen schmerzlich schönen Film, die nicht so leicht verschwimmen wird.
Marcel Fabisch



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