Die letzten Stunden von 2023 haben geschlagen und damit blicken wir auf ein ereignisreiches Filmjahr zurück. In acht Reviews, die sich sowohl mit Festivalfavoriten wie Nicolas Philiberts Berlinale Gewinner Sur l’Adamant als auch mit kommerziellen Erfolgsfilmen wie Martin Scorseses lang ersehnten Killers of the Flower Moon befassen, erwecken unsere RezensentInnen den cinematischen Geist von 2023. Wir hoffen, mit diesem zweiteiligen Artikel an die vielen filmischen Höhepunkte des vergangenen Jahres erinnern zu können. Lasst uns euren Lieblingsfilm aus 2023 in den Kommentaren wissen und freut euch auf ein mindestens genauso vielfältiges 2024 mit Filmpost!
Annika Gebhard & Panagiota Stoltidou
Hier geht’s zum ersten Teil der Reviews (in Englisch).
Tár, dir. Todd Field

Verschnörkelte Altbauhäuserfassaden und herbstliche Baumkronen ziehen am Autofenster vorbei, als die Titelfigur von Todd Fields psychologischem Drama Tár ihre Tochter zur Schule fährt und diese mit einem alten Nursery Rhyme aufmuntert. Wir sind in Berlin, Friedenau, am Rheingau-Gymnasium. Im Film ist es eine Grundschule und Tár wird in der nächsten Szene die Mobberin ihrer Tochter mit verbaler Gewalt und Drohungen terrorisieren. „Ich kriege dich“, erklärt sie dem kleinen Mädchen in aller Ruhe. „Und wenn du irgendeinem Erwachsenen erzählst, was ich dir gerade gesagt habe, wird dir keiner glauben, weil ich nämlich erwachsen bin.“
Aber was für eine Erwachsene ist Lydia Tár — Protagonistin, Narzisstin, Egozentrikerin, die erste weibliche Chefdirigentin eines renommierten Orchesters, deren Untergang der Film beleuchtet? Wir treffen die Figur an der Spitze ihres Erfolgs und verfolgen, wie ihr Machtmissbrauch, ihr manipulatives Spiel, ihr Ehrgeiz und ihre Selbstsucht ihr zum Verhängnis werden. Dabei ist diese Darstellung keineswegs eindimensional: Was wahr ist und was nicht bleibt zum Teil ungewiss, die systematisch toxischen Strukturen hinter dem akademischen Hochglanzdaseins werden ebenso entblößt wie Társ charismatische Schreckensherrschaft und die Themen, die aufgeworfen werden, sind kontrovers: Sie umfassen unter anderem Cancel Culture, Geschlechterrollen und die Auswirkungen des Patriarchats; Genie, Wahnsinn und Identität. Am Ende sitzt Tár in ihrem alten Kinderzimmer und hört sich Leonard Bernsteins Rede vom allerersten „Young People’s Concert“ an. Die Tränen laufen ihr über die Wangen und im Raum verklingt die Tragödie eines Lebens, das mit der Liebe zur Musik begann und sich im absoluten Abgrund verlor, wobei auch dieser, wie alles im Film, nicht definitiv ist.
Wegen dieser Ambivalenzen, wegen seiner ernüchternden, entzaubernden, radikal ehrlichen Dark-Academia-Ästhetik und nicht zuletzt wegen Cate Blanchetts großartiger schauspielerischen Leistung war Tár mein Filmhighlight des Jahres.
Noëlle Jaene
Killers of the Flower Moon, dir. Martin Scorsese

Wie lässt sich von einem Genozid erzählen? Das ist die zentrale Frage in Martin Scorseses Historienfilm Killers of the Flower Moon (2023). Im Oklahoma der goldenen Zwanzigerjahre wird auf dem Land der Osage Erdöl gefunden, was den Stamm zu beträchtlichem Wohlstand kommen lässt. Dadurch werden allerdings auch andere angelockt, die sich an dem Ölvorkommen bereichern wollen. Etwa der Großgrundbesitzer William Hale (Robert De Niro), der patriarchisch über seine Ranch herrscht und sich als Freund der Ureinwohner gibt. Aber Hale will mehr. Aus der Sicht seines Neffen Ernest Burkhart (Leonardo DiCaprio) erzählt der Film, wie die Familienmitglieder seiner indigenen Frau Mollie (Lily Gladstone) nach und nach getötet werden, bis auch Mollie fast stirbt.
Mit den kolonialen Verbrechen an den Native Americans widmet sich Scorsese einem Thema, das aus dem Hollywood-Establishment heraus nicht einfach zu erzählen ist. Doch der Film schafft es, die eigene Produktionsweise zu reflektieren. In einer zentralen Szene wechselt der Schauplatz von der Provinz plötzlich in einen eleganten Theatersaal und offenbart, dass die Handlung eigentlich nicht direkt, sondern über den Umweg eines Live-Hörspiels erzählt wird. Begleitet von einem Kammerorchester spielen weiße Schauspieler das Geschehen zur Unterhaltung eines weißen Publikums nach. Die Szene suggeriert, dass auch der Film selbst mit der Leidensgeschichte der Osage Kapital macht. Dass Scorsese selbst dann die Bühne des Saals betritt, um ein Versatzstück der True-Crime-Story zu referieren, lässt sich nur als selbstkritischer Metakommentar verstehen. Abseits dieses Cameo-Auftritts ist es aber vor allem Lily Gladstone, die in der Rolle als Verteidigerin ihrer Familie brilliert. Es ist nur zu hoffen, dass die vorher kaum bekannte Schauspielerin nun die Anerkennung erhält, die ihr gebührt. Womöglich ist es als allererste sie, die als Nachfahrin der Osage den Völkermord an ihren Vorfahren am besten erzählen kann.
Lukas Siebeneicker
Anatomy of a Fall, dir. Justine Triet

Spätestens seit Messi den Palm Dog Awards, der höchsten Auszeichnung für Leinwand-Hunde, gewonnen hat, wissen wir, dass Anatomy of a Fall einer dieser grossartigen Filme ist, mit denen niemand gerechnet hat. Messi, das ist der fluffige Familienhund, der Anfang und Ende des Dramas einkreist. An seiner Seite spielen Sandra Hüller, als die erfolgreiche Autorin Sandra Voyter und Milo Machado Graner als der beinah blinde Sohn Daniel, zwei mythologische Gestalten, der Tragödie ausgesetzt.
Am Anfang ist ein Sturz, den niemand gesehen hat. Vor dem, in den Bergen gelegenen, Familienhaus liegt der Vater und Ehemann (Samuel Theis) blutüberströmt im Schnee. War es Unfall, Suizid oder Mord? Diese Frage muss das Gericht in Grenoble beantworten. Was Anatomy of a Fall von den meisten Filmen unserer Zeit hervorhebt, ist nicht bloß Spiel- und Bildgewalt: es ist das tiefe Verständnis für die Handhabung filmischer und dramatischer Mittel. Anstatt eine bestimmte Aussage, sei sie Gefühls- oder Ideologiegeladen, dem Publikum aufdrücken zu wollen, lässt Autorin und Regisseurin Justine Triet das Drama zwischen Ideal, Leben und Wahrheit auf drei Menschen los und hält nur fest, was sich in diesem Konflikt verselbstständigt hat. Es gibt keine Szenen, die erklären, es gibt keinen Soundtrack, der Gefühle suggeriert. Stattdessen werden wir durch die Abwesenheit einer Antwort in den Bann gezogen und auf innere Wahrheitssuche geschickt.
Stav Szir
Fallen Leaves, dir. Aki Kaurismäki

Feierabend. Karaoke. Eine raue Arbeiterstimme brummt sehnsüchtige Lieder ins Mikrofon. Leise flehen meine Lieder / durch die Nacht zu dir. Zwei Augenpaare treffen sich. Die besten Jahre sind vorbei. Die Kraniche sind geflogen / schon über meinen Kopf hinweg. Aki Kaurismäkis Fallen Leaves ist ein bittersüßer Film, ein Film der Gegensätze. Zwischen Hoffnung und Tristesse begegnen wir zwei einsamen Seelen inmitten des Helsinkis der Gegenwart, zwei fallenden Blättern. Da ist zum einen Holappa (Jussi Vatanen). Schnaps in der Jackentasche, Wohnen im Container, kaum mehr Besitz als einen zerfledderten Roman. Und da ist Ansa (Alma Pöysti). In den Händen die Stromrechnung, aus dem Radio der Krieg, abgelaufene Lebensmittel, schmutziges Geschirr, im Stahlwerk das Grau gießen, das einen begräbt. Aber ich bin bis zu meinen Knien in Beton gegossen / Mit einer unsichtbaren tausend Pfund schweren Last auf meinem Rücken. Das ist die eine Seite. Auf der anderen spielt das Leben. Sehnsucht, Liebe, Hoffnung – und viel Witz. Holappa und Ansa entdecken sich, verstehen sich, verlieren sich: der Zettel mit ihrer Nummer davongeweht wie ein Blatt im Wind. Ein Rückschlag, nicht der erste und nicht der letzte. Aber Bangemachen gilt nicht und Kaurismäki hätte seinen Film nicht Fallen Leaves genannt, wenn nicht auf jeden Winter wieder Frühling folgen würde. Ein schöner Gedanke, ein noch schönerer Film.
Marcel Fabisch




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